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I Potenzialanalyse

Am Anfang der Schutzkonzept-Entwicklung sollte immer eine Potenzialanalyse stehen. Was kompliziert klingt, ist nicht mehr, als den Ist-Stand der Schule beim Thema Schutz vor sexueller Gewalt zu erheben. Die Potenzialanalyse bildet den Ausgangspunkt, weil sie gewährleistet, dass bereits Vorhandenes nicht übersehen wird, denn keine Schule fängt bei null an!

Wenn man sich mit den Bestandteilen eines Schutzkonzepts vertraut gemacht hat, kann man überprüfen, ob einzelne präventive Maßnahmen oder Strukturen schon vorhanden sind.

Fündig wird man beispielsweise ...

  • im Schulprogramm
  • in Konzepten zur Qualität pädagogischer Beziehungen
  • in Konzepten zur Suchtprävention
  • in Anti-Mobbing-Programmen
  • in Anti-Rassismus-Projekten
  • in medienpädagogischen Konzepten

Aber auch ein genauer Blick gemeinsam mit den Schüler*innen auf den gelebten Schulalltag – etwa unter der Fragestellung „Habe ich schon einmal eine sexuelle Übergriffigkeit erlebt und beobachtet, in der Lehrer*innen gut reagiert und geholfen haben?“ oder auch „Wo im Unterricht wird regelmäßig das Thema ‚sicherer Umgang mit digitalen Medien‘ angesprochen?“ zeigen, wo Prävention bereits stattfindet. Das sind Potenziale, auf denen das Schutzkonzept aufbauen kann.

So kann es sein, dass Teile der Schulordnung in einem Verhaltenskodex verwendbar sind. Vielleicht sind die Umsetzung der Kinderrechte, Gewaltfreiheit und ein achtsamer, respektvoller Umgang benannte Ziele im Leitbild der Schule und können im Sinne des Themas sexuelle Gewalt noch konkretisiert werden. Oder es stellt sich heraus, dass regelmäßige Angebote zur Suchtprophylaxe bereits stattfinden und dass es Überschneidungen zu Präventionsangeboten gegen sexuelle Gewalt gibt, weil sie beispielsweise die „Stärkung des Selbstbewusstseins“ fördern. Potenziale im Sinne von Ressourcen können auch Lehrkräfte oder Schüler*innen sein, die über bestimmte Erfahrungen oder Kompetenzen verfügen, welche die Schule im Schutzkonzept-Prozess nutzen kann.

Es ist ein erster Schritt, diese Potenziale zu identifizieren und sich zu fragen, ob sie tatsächlich umgesetzt werden – und nicht nur als schriftliches Konzept existieren – oder gegebenenfalls noch weiterentwickelt werden können. 

TIPPS

 

MATERIAL

Diese systematische Abfrage aller Schutzkonzeptbestandteile hilft, sowohl Potenziale zu identifizieren, als auch Handlungsbedarfe im Einzelnen zu erkennen.

ZusätzlicheLänderinfos

II Risikoanalyse

Auch die Risikoanalyse, die offenlegt, wo sich die „verletzlichen“ Stellen einer Schule befinden, gehört an den Anfang der Konzeptentwicklung. Die beiden Ziele von Schutzkonzepten bilden dabei den Ausgangspunkt für die Risikoanalyse.

Zwei Ziele von Schutzkonzepten:

  • DIE SCHULE SOLL NICHT ZUM TATORT WERDEN:
    Schüler*innen sollen vor sexueller Gewalt durch Erwachsene im schulischen Kontext, aber auch durch Mitschüler*innen geschützt werden.
  • DIE SCHULE SOLL EIN KOMPETENZORT SEIN:
    Hier finden Schüler*innen Hilfe, wenn sie im schulischen, aber auch im privaten Umfeld sexuelle Gewalt erleben.

 

  • Die 1.Frage der Risikoanalyse lautet: Welche Situationen sowie strukturellen und räumlichen Gegebenheiten erhöhen die Gefahr, dass hier sexuelle Gewalt passiert?
  • Die 2.Frage der Risikoanalyse lautet: Wie groß ist die Gefahr, dass betroffene Schüler*innen an dieser Schule nicht bemerkt werden oder/und keine Hilfe erhalten?

 


Risikoanalyse zur 1. Fragestellung

Welche Bedingungen erleichtern sexuelle Übergriffe und Missbrauch? Um dieses Risiko einschätzen zu können, muss sich die Projektgruppe vorab im Rahmen von Fortbildungen mit Täterstrategien befassen. Zu begreifen, dass Missbrauch nicht aus Versehen geschieht, sondern in der Regel eine geplante Tat ist, ist die entscheidende Voraussetzung für diese Analyse. Das Wissen um Täterstrategien schärft die Wahrnehmung und sensibilisiert für Umstände, deren Risiko ohne Fachwissen regelmäßig übersehen würde. Die Projektgruppe analysiert in einem ersten Schritt systematisch – anhand unterschiedlicher Methoden (siehe Tipps/MATERIAL) – verschiedene Gefährdungsaspekte. Hier sollte der Blick sehr weitreichend sein und auch Gefährdungslagen überprüfen, die im Umgang mit Nähe und Distanz liegen, in der Nutzung digitaler Medien, im baulichen Bereich, im Einstellungsverfahren oder auch in der besonderen Vulnerabilität einzelner Schüler*innengruppen. Auch „schultypische“ Risiken müssen berücksichtigt werden, wie beispielsweise das „Einzelkämpfertum“ der Lehrkräfte, die oft allein in den Klassen arbeiten. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient der Umstand, dass Lehrkräfte über eine erhebliche Macht verfügen, weil sie Leistung bewerten und Schüler*innen sich dadurch in einer starken Abhängigkeit befinden.

An weiterführenden Schulen kann sich im zweiten Schritt der Risikoanalyse die Projektgruppe zeitweise um einzelne Schüler*innen verschiedener Jahrgänge erweitern. Auch diese beschäftigen sich beispielsweise in einem Workshop mit Expert*innen zunächst mit sexualisierter Gewalt und Täterstrategien sowohl im analogen als auch im digitalen Raum. Mit diesem Hintergrundwissen können sie dann aus ihrer Sicht eine Untersuchung von Risikofaktoren durchführen und die Ergebnisse der Erwachsenen ergänzen. Es ist zu empfehlen, in einem dritten Schritt gemeinsam zu überlegen, wie weitere Erfahrungen und Einschätzungen des Kollegiums und der anderen Schüler*innen erfragt werden können. Etwa mit einer (anonymen) Umfrage dazu, welche übergriffigen Situationen sie im Schulalltag schon erlebt haben und an welchen Orten oder in welchen Situationen sie sich im schulischen Rahmen nicht sicher fühlen. Dafür können beispielsweise die Fragebögen, die unter Tipps/MATERIAL verlinkt sind, genutzt werden. Hilfreich ist hierbei, bestimmte Situationen abzufragen, beispielsweise Klassenfahrten, Einzelsituationen, Sportunterricht oder Pausen.

Grundschulkinder und Schüler*innen mit einer geistigen Behinderung würde es überfordern, wenn sie im Rahmen der Projektgruppe mitdiskutieren sollten. Bei ihnen ist es angemessener, sie in Klassen- oder auch Einzelgesprächen nach ihren Erfahrungen zu fragen. Etwa dazu, ob sie in der Schule schon mal Situationen erlebt haben, wo sie sich unwohl gefühlt haben oder Angst hatten oder ob sie das mal bei einem anderen Kind beobachtet haben. Eine weitere Frage wäre, ob es Räumlichkeiten in der Schule gibt, wo sie sich unbehaglich fühlen. Es gibt häufig Berichte aus Schulen, dass Kinder vermeiden, während der Schulzeit auf die Toilette zu gehen. Hier wäre es wichtig, nach den Gründen zu forschen.

Ein Blick zurück: Aufarbeitung

Bei der Risikoanalyse geht es aber nicht nur um mögliche Risiken, sondern auch um Risiken, die sich bereits realisiert haben. Die Frage muss lauten: Gab es in unserer Schule in der Vergangenheit bereits Fälle von sexualisierter Gewalt? Und was gilt es daraus für die Zukunft zu lernen? Hier setzt schulische Aufarbeitung an, die Antworten auf die Fragen gibt: Wie war das möglich? Welche Bedingungen haben dem Täter oder der Täterin ihre Taten erleichtert? Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat Empfehlungen veröffentlicht, wie Aufarbeitungsprozesse in Institutionen gelingen können (siehe Tipps/LITERATUR).

Risikoanalyse zur 2. Fragestellung

Um die Risiken zur 2. Fragestellung erkennen zu können, sollten die Erfahrungen gesammelt und ausgewertet werden, die bislang in der Schule mit Hilfe suchenden Schüler*innen gemacht wurden. Dies kann zunächst in der Projektgruppe geschehen und sollte im Idealfall auf das gesamte Kollegium, mindestens aber auf die Vertrauenslehrkraft und die Schulsozialarbeit ausgedehnt werden. Mögliche Fragen sind: Hat sich schon einmal oder mehrmals ein*e Schüler*in wegen sexueller Gewalterfahrungen an mich gewandt? Konnte ich helfen bzw. könnte ich helfen, wenn ein solcher Fall eintreten sollte? Welche Fortbildungen oder Studientage bräuchten wir als Kollegium, damit wir uns hier kompetent fühlen? Wenn sich noch nie jemand an mich gewandt hat, woran könnte das liegen? Wissen die Schüler*innen, dass dieses Thema in der Schule einen Raum hat? Wissen sie, dass Vertrauenslehrkräfte explizit auch zu diesem Thema ansprechbar sind? Wissen sie, dass sie selbst entscheiden dürfen, wem sie sich anvertrauen wollen? Welche Signale und Informationen geben wir dazu im Schulalltag?

Es ist sehr anzuraten, diese Fragen auch altersangemessen mit den Schulklassen oder einzelnen Gruppen von Schüler*innen anzusprechen. Nehmen sie die Schule als helfende Institution wahr? Welche Erfahrungen haben sie gemacht, wenn sie private Probleme hatten? Hier sollte allgemein nach Hilfeerfahrungen bei Belastungen und Problemen gefragt werden, um keinen „Offenbarungsdruck“ aufzubauen. Aber hypothetisch darf durchaus gefragt werden, was sie glauben, was ein Mädchen oder ein Junge mit sexueller Gewalterfahrung bräuchte, um in der Schule Unterstützung zu suchen. Welche Signale würden sie ermutigen? Haben die Schüler*innen den Eindruck, dass Lehrkräfte und andere pädagogische Fachkräfte „Ahnung“ haben und helfen könnten? 

Diese Gespräche mit Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Risikoanalyse entfalten unmittelbare Schutzwirkung – noch bevor das Schutzkonzept entwickelt ist. Sie erleben, wie wichtig es den Verantwortlichen in der Schule ist, dass sie mit (sexuellen) Gewalterfahrungen nicht allein bleiben. Und für betroffene Schüler*innen kann das ein wertvolles Signal sein: „Trau dich, hier kannst du auf Hilfe zählen.“

Mit Blick auf möglicherweise zurückliegende Fälle von sexueller Gewalt muss im Sinne der Aufarbeitung auch gefragt werden: Haben die Betroffenen von damals Hilfe in der Schule gefunden? Wurde jemand auf sie aufmerksam? Oder wurde weggeschaut, wurden Hinweise ignoriert oder Handlungen bagatellisiert?

Wie die Ergebnisse genutzt werden können

Angesichts der Ergebnisse der Risikoanalyse zu beiden Fragestellungen überlegt die Projektgruppe, wie das Schutzkonzept aussehen muss, um passende Antworten auf die „wunden Punkte“ zu finden. Es wird sich zeigen, dass manche Risiken behoben und andere immerhin minimiert werden können. 

  • Wenn sich beispielsweise herausstellt, dass die Sportlehrkräfte keine eigenen Umkleiden haben und sich bisher gemeinsam mit den Schüler*innen umziehen, können bauliche Veränderungen nötig werden oder müssen alternative Umkleideorte oder -zeiten für die Lehrkräfte gefunden werden.
  • Stellt die Projektgruppe fest, dass die meisten Schüler*innen den Vertrauenslehrer gar nicht kennen, ist im Bestandteil „Ansprechstellen und Beschwerdestrukturen“ festzulegen, auf welche Weise sich die Vertrauenslehrkraft mit ihren Themen in der Schule vorstellt und beispielsweise verbindliche Sprechzeiten anbietet.
  • Wenn die Gespräche mit Schüler*innen der unteren Jahrgänge ergeben, dass sie sich auf den im Keller gelegenen Toiletten fürchten, kann die Beleuchtung optimiert werden oder es kann über einen Tausch mit den Toiletten für das Kollegium, die im ersten Obergeschoss liegen, nachgedacht werden. 

Es gibt aber auch Risiken, die nicht veränderbar sind – jedenfalls nicht, ohne anderen Schaden anzurichten. Hat beispielsweise die Risikoanalyse gezeigt, dass Vier-Augen-Situationen sehr leicht für sexuelle Übergriffe ausgenutzt werden können, wäre es dennoch falsch, Vier-Augen-Situationen im Verhaltenskodex generell auszuschließen. Denn wer zu Hause sexuellen Missbrauch erlebt und sich Hilfe suchend an eine Lehrkraft wendet, braucht für ein vertrauliches Gespräch einen geschützten Rahmen – zu zweit in einem Raum bei geschlossener Tür. Solche, aber auch andere pädagogisch motivierte vertrauliche Situationen müssen in einem Schutzkonzept berücksichtigt werden!

Wenn sich zeigt, dass ein Risiko nicht veränderbar ist, ist das kein Grund zur Resignation. Allein die Tatsache, dass das Risiko nach der Analyse nun bekannt ist, sorgt dafür, dass ihm zukünftig Beachtung geschenkt werden wird. Und damit entfaltet das Schutzkonzept seine Wirkung gegenüber der Täterstrategie, Bedingungen zu nutzen, die unauffällig sind und die keiner beachtet. 

Die Ergebnisse der Risiko- und Potenzialanalyse sollten auf jeden Fall schriftlich festgehalten werden, denn sie fließen bei der Erstellung der Bestandteile des Schutzkonzepts immer wieder ein. Außerdem ist es interessant, sie nach Abschluss der Schutzkonzept-Entwicklung zur Auswertung des Gesamtprozesses noch einmal zu betrachten, damit die erfolgten Veränderungen bewertet und wertgeschätzt werden können.

Tipps

 

Material

Ehemaliges Online-Selbstevaluierungstool, dessen bereichsspezifische Fragebögen für Jugendliche ab 14 Jahren weiterhin für eigene Zwecke genutzt werden können. Sie wurden im Rahmen eines Forschungsvorhabens des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs 2015–2018 in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut e. V. entwickelt und umfassen verschiedene Bereiche, u. a. Schule.

Bei diesem Angebot des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI e. V.) handelt es sich um eine Methodensammlung zur Selbsteinschätzung der Präventions­bemühungen pädagogischer Einrichtungen wie beispielsweise Schulen. Sie bietet u. a. Fragebögen zur Einrichtungs­atmosphäre für Kinder/Jugendliche sowie Mitarbeitende, die auch für die Durchführung der Risikoanalyse genutzt werden können.

Literatur

Die Empfehlungen informieren über wichtige Rahmen- und Gelingensbedingungen von Aufarbeitungsprozessen, bieten Orientierung und Handlungssicherheit und bestärken beteiligte Personen darin, Aufarbeitung anzugehen.

  • Erzbischöfliches Ordinariat Berlin/Beauftragter zur Prävention von sexualisierter Gewalt (Hrsg.): Arbeitshilfe Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention von sexualisierter Gewalt in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Seite 16-24 Risikoanalyse

Diese Veröffentlichung aus dem katholischen Kontext enthält Anregungen, die sich auf den schulischen Kontext gut übertragen lassen.

In dieser Veröffentlichung für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wird ein anderer Zugang zur Risikoanalyse vorgestellt, der sehr umfassend und zeitintensiv ist, aber wertvolle Aspekte für die Risikoanalyse in der Schule enthält.

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